Reha für ältere in Gefahr

geriatrische Reha

 

Aus der NZZ am Sonntag: Reha für Ältere in Gefahr - 18.08.2019

Laurina Waltersperger

 

 

Edith Meier ist 82 Jahre alt. Sie wohnt allein. Die Nachbarin schaut zu ihr. Meier leidet an leichtem Parkinson. Ihre Beine versagen manchmal. Eines Morgens stürzt sie auf der Treppe und bricht sich den Oberschenkelhals. Sie wird operiert, geht am Rollator. Doch die Stufen zur Wohnung im dritten Stock hinaufzusteigen, braucht Zeit.

 

Wäre Meier zwanzig Jahre jünger, würde man sie direkt in die Rehabilitation für den Bewegungsapparat schicken. Doch Meier ist 82, hat neben den Hüftbeschwerden Parkinson und ein schwaches Herz. Sie ist «multimorbid», wie es im Fachjargon heisst. Damit stellt sich die Frage, wo sie am besten versorgt werden kann. Ihr Fall steht exemplarisch für ältere Patienten, die meist nach einem Sturz oder einem Schlaganfall ins Spital müssen. Sie brauchen anschliessend eine Behandlung in der Reha. Doch diese gerät jetzt unter Druck.

 

Hürden für Ältere steigen

Denn die Bedürfnisse älterer Patienten stehen konträr zur Entwicklung der Medizin: Sie wird spezialisierter und fragmentierter. Dieser Widerspruch präsentiere sich in der Reha-Pflege stark, sagen Fachleute. Ab 2022 sollen auch in der Reha Fallpauschalen eingeführt werden. Ein nationales Tarifsystem wird ausgearbeitet. Dazu werden neue Kriterien erstellt. Sie legen fest, wer Anrecht auf eine Reha hat. Das neue System gehe zulasten älterer Patienten, warnen nun Ärzte, Fachgesellschaften und Gesundheitspolitiker. Sie befürchten, dass die Hürden für eine bedürfnisgerechte Reha besonders für ältere Patienten markant steigen.

 

«Kommt das neue Tarifsystem wie geplant, besteht die grosse Gefahr, dass die geriatrische Reha nicht mehr oder nur noch zum Teil angeboten werden kann», sagt Andreas Stuck, Professor und Direktor der Geriatrischen Universitätsklinik des Inselspitals Bern. Stuck ist Präsident der Schweizerischen Fachgesellschaft für Geriatrie. Die Reha-Leistung sei darauf ausgelegt, einen kranken Menschen ins selbständige Leben zurückzuführen. Für Jüngere gelte: Beruf statt Rente, für Ältere: nach Hause statt ins Pflegeheim. Für jede Reha brauche es eine Prognose des Arztes. Bei multimorbiden Menschen sei eine Prognose schwieriger. Verordnet der Arzt eine Reha, muss er eine Kostengutsprache bei der Krankenkasse einholen. Wie weitere Experten rechnet Stuck damit, dass die Krankenkassen den restriktiven Kurs bei der Kostengutsprache mit dem Tarifsystem verschärfen. «Damit nehmen die Kliniken nur noch die Patienten, bei denen die Kassen sicher zahlen.»

 

Die Organisation SwissDRG sammelt derzeit Daten der Reha-Kliniken, um das Tarifsystem zu entwickeln. Gleichzeitig arbeiten die Gesundheitsdirektionen der Ostschweiz, von Graubünden, Zürich und dem Aargau an Kriterien für verschiedene Leistungsgruppen in der Reha. Zürich ist federführend. Die Zürcher Spitalplanung 2023 sieht eine geriatrische Reha vor, die an ein neues Kriterium gebunden ist: eine komplizierte Gebrechlichkeitsmessung. «Kommt dieses Kriterium durch, werden etwa zwei Drittel der älteren Patienten, die eine Reha brauchen, zwischen Tisch und Bänke fallen», sagt Roland Kunz, Chefarzt der Universitären Klinik für Akutgeriatrie der Zürcher Stadtspitäler. Sie wären dann «zu wenig gebrechlich» für die geriatrische Reha – aber «zu krank» für die Reha, die sich um die Hüftfraktur oder den Schlaganfall kümmert. «Sie können nicht mehr bedürfnisgerecht behandelt werden.» Was das heisst, zeige sich schon heute: «Hat ein älterer Patient mit einer Hüft-OP in der normalen Reha Probleme mit seinem Herz, schickt ihn die Reha wieder zu uns ins Spital», sagt Kunz. Das führe zu unnötigen Kosten, die vermieden werden könnten. Die geriatrische Reha müsse deshalb möglichst viele ältere, multimorbide Patienten einschliessen und dürfe keine «Altersrationierung» vornehmen.

 

«Bundesrat muss handeln»

Setzt die neue Spitalplanung des Kantons Zürich das geplante ­Gebrechlichkeitskriterium um, würden weitere Kantone folgen, sagen Fachpersonen. Vor drohenden Hürden warnt auch SP-Gesundheitspolitikerin Bea Heim. Die Krankenkassen würden das Reha-Potenzial für ältere Patienten oft nicht anerkennen, sagt sie. «Müssen sie nach einem Sturz ins Spital, steckt man sie danach zu oft ins Pflegeheim.» Das sei die einfachste Lösung für Kassen und Kantone – und finanziell interessanter. Anders als in der Reha zahlt im Pflegeheim der Patient den Hauptteil seiner Kosten. Der Bundesrat hielt 2007 in einer Motionsantwort fest, dass es an allgemeinmedizinischer Reha fehle und man die Problembereiche weiterverfolge. «Passiert ist nichts. Die Probleme haben sich weiter verschärft», sagt Heim.

 

Die Reha-Situation sei sehr unbefriedigend, sagt Joachim Eder (fdp.), Präsident der ständerätlichen Gesundheitskommission. Er sitzt im Beirat des Verbands Swiss Reha. Ihn erstaunt, dass der Bundesrat in der Gesundheitsstrategie 2020 die Reha nicht erwähnt. Von den 82 Milliarden Franken Gesundheitskosten für 2017 entfielen 3,5 Milliarden auf die Reha. «Sie ist ein relevanter Kostenpunkt und dürfte mit der wachsenden Überalterung ansteigen.» Doch es herrsche noch immer Unstimmigkeit, wie sich die Reha zur Kur oder Langzeitpflege abgrenze. «Der Bundesrat muss in der Verordnung zum Krankenversicherungsgesetz diese Definition endlich klären.»

Der Krankenkassenverband Santésuisse spricht sich beim neuen Tarifsystem für klare Kriterien aus. Die Kassen zahlen fast die Hälfte der stationären Reha-Kosten. «Es muss sichergestellt werden, dass künftig die älteren Menschen eine Reha bekommen, die sie auch brauchen», sagt Direktorin Verena Nold.

Aus dem NZZ-E-Paper vom 18.08.2019